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Kolumne ABO

Wandern ist übersetzen

05.09.2025

In unseren Sommerferien hatten meine Freundin und ich uns an einem Vormittag aus der alten Innenstadt rausgewagt, und wir schleusten uns durch die Stadtmauern in die Vorstadt, in einen kleinen Wald und dem kanalisierten Fluss entlang. In einer Sprache, die wir beide nur so halb verstehen und kaum sprechen, erklärte uns unsere Vermieterin am Tag zuvor den Weg in die Natur. Jetzt versuchten wir, ihre Worte in der Landschaft wiederzufinden. Das erinnerte mich an ein Spiel, das ich kürzlich mit einer Schulklasse gespielt hatte; hier übersetzten die Kinder kurze Sätze in Zeichnungen und dann die Zeichnungen wieder in geschriebene Geschichten. Jedes Mal verformte sich die Handlung ein wenig.

Ich habe eine grosse Faszination für Übersetzungen. Beim Übersetzen wird versucht, sich einen Inhalt kurzfristig anzueignen und dann als eigener Ausdruck weiterzugeben; das erfordert zuzuhören, eine eigene Sprache zu finden, auf Kontexte achtzugeben und die persönliche Geschichte nie als absolute Wahrheit hinzunehmen.

Diesen Gedanken mag ich – auch in Bezug auf das Wandern. Da passiert etwas Ähnliches, wir reagieren mit unseren Körpern nämlich zwangsläufig auf die Gegebenheiten um uns. Ein steiler Aufstieg übersetzt sich also vielleicht in eine kürzere Atmung, ein Windstoss in Hühnerhaut und lockeres Geröll in vorsichtiges Tasten. So wird jede erwanderte Route von der jeweiligen Person erneut anders übersetzt, die Aussichten unterschiedlich betrachtet und dann noch einmal unterschiedlich erinnert. In den Ferien wurde es derweil am Wasser langsam kühler, leiser und ruhiger, und obwohl wir uns über die Wegbeschreibung unserer Vermieterin bald nicht mehr einig waren, fanden wir zuerst die Weite und dann zurück zu unserer Wohnung.

Wieder zu Hause erzählten wir dann den Daheimgebliebenen von unserem Ausflug auf die andere Seite der Stadtmauern. Natürlich als zwei komplett unterschiedliche Geschichten.

Über die Autorin und Illustratorin

Autorin: Ava Slappnig hat Germanistik, Gender Studies und Kulturpublizistik studiert. Sie arbeitet als Aufsicht im Kunstmuseum Bern und als Journalistin im Kulturbereich. Neben den offiziellen Wanderwegen erkundet sie auch mal Diskurse, Ideen und gesellschaftliche Phänomene.

Illustratorin: Zu jeder Kolumne gestaltet die junge visuelle Gestalterin Leonie Jucker aus Bern eine llustration.

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