Schneefresser und Traubensüsser
Der Föhn ist wohl das bekannteste und auch berüchtigtste Wetterphänomen der Schweiz. Er kann ebenso segensreich wie zerstörerisch wirken. Einer der besten Föhnkenner des Landes ist der Meteorologe Ludwig Zgraggen. Er weiss, wie der warme Fallwind entsteht, wo er weht und warum manche Menschen vor ihm Angst haben.
Andreas Staeger

Typisch bei Föhn: Die Linsenwolken am Himmel – hier über dem Krönten – künden von Sturm. Bild: Andreas Wipf
Oh ja, er sei ein richtiger Föhnfan, bekennt Ludwig Zgraggen. Der 47-jährige Meteorologe arbeitet bei MeteoSchweiz, dem nationalen Wetter- und Klimadienst. Der Föhn fasziniere ihn: «Man kann ihn mit allen Sinnen spüren.» Sogar die Nase nehme ihn wahr: Bei Föhn rieche die Luft anders, nämlich rein und leicht süsslich. Zgraggen weiss, wovon er spricht: Er ist in Silenen im Kanton Uri aufgewachsen, einem der klassischen Föhngebiete der Schweiz. Das Dorf liegt im Urner Reusstal, das fast exakt von Süden nach Norden verläuft – ein gefundenes Fressen für den berühmt-berüchtigten Fallwind.
Föhn gäbe es nicht ohne die Alpen, erklärt Zgraggen. Wie eine riesige Mauer erstrecken sie sich von Westen nach Osten quer durch Europa. Wenn über Süd- und Mitteleuropa eine grossräumige Südströmung herrscht, muss diese die Alpen überqueren. Dabei wird sie auf der Alpensüdseite zum Aufsteigen gezwungen, wodurch sie sich abkühlt. Meist kommt es dabei zu Niederschlägen. Wenn die Luft den Alpenkamm überquert hat, fällt sie in die Täler der Alpennordseite ab. Beim Abstieg erwärmt sie sich pro 100 Meter Höhendifferenz um ein Grad. Da warme Luft mehr Feuchtigkeit enthalten kann, trocknet sie – relativ gesehen – ab. Damit tritt die Luftströmung nun als warmer und trockener Wind in Erscheinung. Ein Beispiel: Wenn die Luft auf dem 2100 Meter hohen Gotthardpass bei starkem Südwind 0 Grad und 100 Prozent relative Luftfeuchtigkeit aufweist, können im 450 Meter hoch gelegenen Altdorf bei stürmischem Föhn 15 Grad gemessen werden; die relative Luftfeuchtigkeit beträgt dort nur noch etwa 35 Prozent.
Föhn kennt auch der Süden
Warme Fallwinde gebe es nicht nur in den Alpen, sondern etwa auch in den Rocky Mountains oder in Japan, weiss Ludwig Zgraggen. Doch der Alpenföhn habe eine ganz spezielle Eigenschaft: Er könne in zwei verschiedene Richtungen blasen. Als klassischen Südwind kennt man ihn in der Deutschschweiz. Aber er tritt auch auf der Südseite der Alpen auf. Bei nördlichen Winden erlebt nämlich die Alpennordseite oft eine Stausituation mit Niederschlag, während im Tessin strahlend schönes Wetter herrscht. Der böige Nordwind, der dann dort weht, wird ebenfalls Föhn genannt.
Günstiger Wind, der Kopfweh macht
Das Wort Föhn geht übrigens auf die Antike zurück. Als die Römer über die Alpen hinweg nach Norden vorstiessen, erlebten sie das Gebiet der Germanen als kalt und unwirtlich. Doch zuweilen blies dort ein milder, warmer Wind, der sie an ihre südliche Heimat erinnerte. Daher nannten sie ihn Favonius – «der Günstige». Im Laufe der Zeit entstand daraus das Wort Föhn.
Wetterfühligen Menschen mag diese Erklärung fast zynisch erscheinen. Sie finden den Föhn alles andere als günstig oder angenehm, weil er ihnen oft Kopfweh beschert. Es ist perfid: Diese Erscheinung tritt nicht dort auf, wo der Föhn tatsächlich bläst, nämlich in den Alpentälern, sondern weit davon entfernt im Mittelland. Dorthin stösst der Föhn meist gar nicht vor; stattdessen streicht er über kalte Luftschichten am Boden hinweg. Dabei kommt es zu wiederholten schwachen Luftdruckschwankungen. Bei empfindlichen Personen kann dies zu Kopfweh, Migräne und weiteren Beschwerden führen.
Gefährliche Stürme
Föhnexperte Ludwig Zgraggen weiss, dass der Föhn auch sonst keinen guten Ruf hat, denn er kann massive Schäden anrichten: «Wenn Föhnwind in Orkanstärke weht, dann vermag er Fenster einzudrücken, Dächer wegzutragen und sogar Eisenbahnwagen aus dem Gleis zu werfen.» Besonders schlimm seien früher Brände bei Föhn gewesen. Damals wurde mit offenen Holzfeuern geheizt und gekocht, und die Häuser waren mit Holzschindeln gedeckt. Ein Föhnsturm konnte einen Brand in rasendem Tempo ausbreiten. Auf diese Weise brannten ganze Dörfer ab, manche – wie Meiringen oder Altdorf – im Laufe ihrer Geschichte gar mehrmals. Mit der Natur und ihren Gefahren ist Ludwig Zgraggen von Kindsbeinen an vertraut. Als er noch ein Kind war, ging knapp an seinem Elternhaus vorbei ein schwerer Murgang nieder. Der Natur gilt denn auch sein grosses Interesse. Seine zweite Leidenschaft sind die Zahlen. Die logische Verbindung dieser beiden Welten ist für ihn die Wetterkunde. Schon als Schulbub wusste er, dass er einmal Meteorologe werden möchte. Wer das Wettergeschehen erfolgreich analysieren und zuverlässig prognostizieren will, arbeitet mit enormen Datenmengen.

Zgraggens Arbeitsalltag bei MeteoSchweiz dreht sich hauptsächlich um Zahlenberge. Der Meteorologe liebt seinen Beruf mit sichtlicher Leidenschaft. Im Gespräch listet er unzählige Daten zu allen möglichen Wetterrekorden auf. Vollends in Fahrt kommt er, wenn es um den Föhn geht: Wann hat er wo mit welcher Geschwindigkeit geweht? Der Experte braucht die Werte nicht nachzuschlagen – er kennt sie alle auswendig. Natürlich auch den absoluten Föhnrekord. Er trat am 14. Dezember 2008 am Lauberhorn im Berner Oberland auf. Die Windgeschwindigkeit betrug unglaubliche 252 Kilometer pro Stunde. Den Föhnfan wurmt es allerdings, dass dies nicht die allergrösste je in der Schweiz gemessene Windgeschwindigkeit war: «Der Westwindsturm Vivian war leider noch ein wenig stärker. Der blies nämlich mit 269 Kilometer pro Stunde.» Leider? Viele Einwohner von Föhntälern sind wohl froh, wenn der Föhn nicht allzu heftig bläst und nichts kaputt macht. Ja klar, räumt Zgraggen ein, auch er habe keine Freude, wenn Schäden entstehen. Sein Interesse sei wissenschaftlicher Art.
Föhndorf Göschenen
Deshalb betreibt er auf beiden Seiten der Alpen auch mehrere eigene Temperaturmessanlagen. Wenn er frei hat und irgendwo in der Schweiz der Föhn bläst, sei es nördlich der Alpen oder im Tessin, dann macht er sich oft dorthin auf, um den Wind zu erleben. An solchen Tagen lässt er Zürich, wo er arbeitet und unter der Woche lebt, gerne hinter sich. Hinsichtlich des Föhns sei die grösste Schweizer Stadt sowieso ausgesprochen langweilig, denn dort wehe er im Durchschnitt nur wenige Stunden pro Jahr. Das Urnerland sei in dieser Beziehung halt viel spannender. Das absolute Nonplusultra ist für den Föhnfan Göschenen: Dort gibt es jedes Jahr rund 1100 Föhnstunden – ein Schweizer Rekord.
Der König der Winde
Der Föhn habe übrigens noch ein anderes Gesicht, vermerkt Ludwig Zgraggen. Er zeige nicht nur wilde, sondern oft auch milde Züge. So verkürze er den Winter und begünstige die Vegetation. Ohne den Föhn würde die Schweiz ziemlich anders aussehen: In der Bündner Herrschaft beispielsweise könnte kein Wein angebaut werden, und auf den Alpen läge viel länger Schnee. Der Föhn sei ein richtiger Schneefresser: Innert 24 Stunden räume er eine 30 Zentimeter dicke Schneeschicht weg. Die Sonne brauche dafür viel länger. Der eigenwillige Fallwind vermag zudem auf kleinem Raum extreme Gegensätze zu schaffen. Föhnexperte Zgraggen erwähnt als Beispiel den Januar 2013. Damals war Göschenen schneefrei. In Airolo hingegen, also nicht weit entfernt auf der anderen Seite des Gotthards, lagen zur gleichen Zeit zwei Meter Schnee. Der Föhn zeige uns Menschen, wie dynamisch die Natur sei. Für den Urner Meteorologen ist er deshalb der König der Winde.